Zugvögel

(Ausschnitt)

Zwei Wochen später war eines Morgens auch das heruntergekommene Haus bewohnt. Die neuen Nachbarn waren bei Nacht und Nebel eingezogen. Bereits am Abend wussten die Stumpfs über sie Bescheid. Es handle sich um Asylanten, die dafür verantwortlich waren, dass junge Menschen keine Arbeit fanden und die Alten bald keine Pension mehr erhielten. Das werden wir wohl nicht mehr erleben, sagten wir.
Sie haben leicht reden, sagten die Stumpfs. Sie haben keine Kinder. Im Übrigen handle es sich bei denen da drüben um Moslems. Bald würden bei uns alle Frauen Burka tragen und Schweinefleisch werde verboten sein. Schnitzel ade!
Uns war diese irrationale Feindseligkeit unangenehm. Doch auf dem Nachbargrundstück war es vorbei mit Ruhe und Beschaulichkeit. Junge Männer hockten im Schatten des Weißdornbuschs, rauchten, tranken Tee und redeten, als seien sie alleine auf der Welt. Kinder rannten durch die Wildnis, Frauen warfen Wäsche über die Büsche, Feuer wurden angezündet, auf Grillrosten qualmte Fleisch. Einmal wurde ein ganze Hammel auf einem Spieß über dem offenen Feuer geröstet.
Wir zählten insgesamt achtunddreißig Erwachsene und zwölf Kinder. Das Haus hatte zwar ein Stockwerk, doch es war unvorstellbar, wie so viele Menschen darin Platz finden sollten. Ein Blick durch die Fenster war trotz Fernglas unmöglich. Die Bewohner hatten die Scheiben mit Zeitungen verklebt oder mit Stofffetzen zugehängt.
Unsere Vögel wussten nicht, wie ihnen geschah. Ihre Warnrufe schallten aus allen Richtungen und wir hörten hungrige Nestlinge piepen. Bis weit nach Mitternacht hielten sich Menschen im Freien auf. Die Elternvögel hatten keine Chance, zu ihren Nestern zu gelangen. Das Morgengrauen war die einzige Zeit, in der es in der Wildnis ruhig war und die Vögel sich um ihre Jungen kümmern konnten.

Wir schliefen kaum noch vor Sorge um unsere gefiederten Freunde. Die Stumpfs trösteten uns. Er habe bereits seine ehemaligen Kollegen kontaktiert, sagte Herr Stumpf. Bei dieser Überbelegung eines baufälligen Objektes sei Gefahr im Verzug. Da müsse die Stadt etwas unternehmen. Wie zur Bestätigung schallte lautes Gezeter vom Nachbargrundstück herüber. Es klang wie ein aufgebrachter Stockentenschwarm. Wir zückten die Ferngläser. Zwei Frauen zankten mit ihren Kindern.
Außerdem, sagte Herr Stumpf, werde er sich erkundigen, ob das Gesetz, das Prostitution im Umkreis von Schulen verbiete, nicht auch auf Asylanten und Pensionistenheime anwendbar sei.  Er werde jedenfalls alles in seiner Macht stehende unternehmen, um dieses Gesindel loszuwerden.

„Wie lange wird das dauern?“, fragten wir.
Herr Stumpf wiegte den Kopf. Unter den Jungen gebe es viele Nieten. Kein Hausverstand. Und Deutsch eine Fremdsprache. Neuerdings drängten Leute mit kroatischer, bosnischer, türkischer Muttersprache in den öffentlichen Dienst. Er werde den Kollegen Druck machen, rechne aber erst in zwei, drei Wochen mit Ergebnissen.
Bis dahin waren die Vogeljungen verhungert! Wir mussten etwas unternehmen! 

Alt werden ist nichts für Feiglinge, heißt es. Das versteht man erst, wenn es soweit ist. Wenn die Welt schrumpft: das Gesichtsfeld, das Atemvolumen, das Gedächtnis, der Freundeskreis, das klare Denken. Wenn Gelenksschmerzen und eine halbseitige Lähmung selbstverständliche Bewegungen unmöglich machen. Da wird man ängstlich und vorsichtig. Seit wir in Haus Rosental wohnten, hatten wir unsere Wohnung nur für die Mahlzeiten verlassen. Gang, Lift, Gang, Speisesaal und zurück. Für Arztbesuche leisteten wir uns ein Taxi.  Wenn wir an die Straßen und Gassen dachten, durch die wir uns bewegt hatten, die Plätze, die wir überquert hatten, ohne uns etwas dabei zu denken, brach uns der Schweiß aus. Wir hatten das Gefühl für die Stadt verloren. Für das, was wir vorhatten, mussten wir unseren ganzen Mut zusammennehmen.
Wir schlüpften in unsere festen Schuhe, setzten die Schirmkappen auf und steckten das Mobiltelefon ein. Trinkflasche und Traubenzucker verstauten wir im Korb des Rollators, außerdem zwei Päckchen Schwarztee und ein paar Tafeln Schokolade.

In: Die Rampe - Hefte für Literatur 1/2019
Hg. vom Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich / StifterHaus, Linz

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